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Predigt beim Gedenkgottesdienst für auf der Flucht ums Leben gekommene Menschen am 22.11.15 in der Stadtkirche Böblingen

(biblische Grundlagen: Psalm 69, Dtn 26, 5-9, Gen 16, 13)

Migrare I

Als Horst Peter Schlotter vor etwas mehr als zwei Wochen hier in der Kirche seine Installation „migrare“ aufbaute, machte er mich auf den Kopf aufmerksam, der seiner Arbeit buchstäblich „zugrunde“ liegt. Flucht, so deutete er damit an, sei zuallererst eine Kopfsache. Dort entstehen die Bilder, die wir von Flüchtlingen haben. Dort setzen sich Urteile fest, entstehen Pläne, formen sich Argumente.

migrareDort wohnen die Erinnerungen an eigene Fluchtgeschichten. An das, was Menschen vor rund 70 Jahren hier erlebt haben, und was nun wieder in ihnen hochkommt – die Trecks von Ostpreussen in den Westen, im Winter übers schneebedeckte Haff, mit völlig überladenen Schiffen raus aus Danzig und Gotenhafen, über die verminte Ostsee nach Kopenhagen oder Kiel, oft havariert und eigentlich nicht mehr seetüchtig.  

Erinnerungen an die Lager in Dänemark oder Niedersachsen. An Hunger und an Demütigungen, an Erschöpfung und an Versuche, den Mangel zu beheben durch Hamstern und „Fringsen“ und Schwarzmarkt und den einen oder anderen kleinen Trick, um an ein zweites Paar Schuhe zu kommen oder eine Puppe oder ein dringend gebrauchtes Medikament.

Diese Geschichten sind in unseren Köpfen. Und auch die anderen: Wie hier die Flüchtlinge ankamen in den zerbombten Städten, wie es Einquartierungen gab und Zwangsanweisungen, wie Teilen nicht freiwillig, sondern auf behördliche Anordnung geschah und man sich nicht mehr daheim fühlte im eigenen Haus. Und schließlich die Erinnerung daran, wie lang jemand ein „Flüchtling“, ein Fremder bleiben konnte. Bis in die 70er, 80er Jahre hinein. Und heute wieder.

All das haben wir im Kopf, wenn wir Flucht hören. Und es lenkt unsere Entscheidungen. Wer selbst noch weiß, wie gut es tat, damals, gut aufgenommen zu werden, tut sich leichter damit, jetzt ein wenig Platz zu schaffen und einer verfolgten Familie Wohnraum anzubieten. Wer damals Angst hatte vor den neuen Mitbewohnern, wird sich auch heute nicht ganz frei fühlen, jemanden aufzunehmen. Und manche sind einfach besorgt, dass man in ihnen nun auch wieder Fremde sehen könnte, trotz des deutschen Passes und der deutschen Vorfahren. Aber eben den Geburtsort irgendwo sonst….

Aylan

Migration – da hat HP Schlotter ganz recht – entscheidet sich im Kopf. So, wie die, die aufbrechen, ihre Entscheidung durchdenken. Wie ganze Familien überlegen, wer wohl am stärksten sein würde für den langen und gefährlichen Weg, wie Eltern entscheiden, ob sie ihren Kindern die gefährliche Überfahrt zumuten können oder doch lieber in der zerbombten und umkämpften Heimat bleiben. Wie Vorbereitungen getroffen, Fotos als Erinnerung aufs Smartphone geladen und Geld und Papiere wasserdicht verstaut werden, um dann womöglich doch verloren zu gehen, angeschwemmt am Ufer einer dieser tollen Inseln im Mittelmeer, auf denen wir so gerne Urlaub machen, Strandgut zwischen Sonnenschirmen und Relaxliegen, seltsam fremd und erschreckend.

Diese Bilder haben wir im Kopf. Das Bild von Aylan Kurdi zB, der in seinem roten Pullover am Strand von Bodrum liegt, die Glieder seltsam verrenkt und den Kopf abgewandt. Es dauerte nicht lange, da hatte ein Karikaturist die Szene aufgespiesst und eine Strandkulisse dazugemalt. Ein amerikanisches Fastfood-Restaurant wie wir sie alle kennen, mit dem großen gelben M und dem Schild neben der Türe: Heute 2 Kinder-Menüs zum Preis von einem. Und darunter der zynische Kommentar des Zeichners: „Schade – so kurz vor dem Ziel!“ Und im Internet kursieren Diffamierungen des Vaters, der zum Leid über den Tod seiner Familie (auch Aylans Bruder und Mutter starben ja), nun auch noch die Verantwortung dafür zugeschoben bekommt.

Geschmacklos ist das. Und zugleich Ausdruck unseres Unverständnisses. Wir waren und sind überfordert von den vielen Bildern der Toten, die wir in diesem Traumsommer gesehen haben, die sich in unsere Urlaubspanoramen verirrten und in unsere Träume. Wenn ich auf der Autobahn an einem Laster vorbeikomme, der scheinbar herrenlos auf dem Standstreifen steht, bekomme ich Angst. So wie viele Politiker in den Ländern entlang der Balkanroute und bei uns, die sich der Flut der Flüchtlinge nicht mehr gewachsen sehen und auch dem Druck derer nicht, die für Willkommenskultur eintreten, und deshalb immer ratloser agieren. Auch das soll die Installation von HP Schlotter ja ausdrücken. Wie chaotisch es im Moment zugeht, wie ungenau die Informationen, wie unzuverlässig die Prognosen. Oder – wenn man die Decke von Claudia Fischer-Walter hier links von mir betrachtet – wie wenig wärmend, wie stupfig und strabig und gar nicht beDECKEnd…

Das alles haben wir im Kopf. Die Bilder, die Zahlen, die Argumente.

Joseph

Um sie zu sortieren, hat sich die damalige Landesbischöfin von Hannover und Beauftragte der EKD für die Flüchtlingsarbeit, Margot Käßmann, seinerzeit – 2006 –  Rat und Hilfe beim 69. Psalm gesucht, den wir ja vorhin gebetet haben. Auch er hat starke Bilder, die das illustrieren, was nicht erst im vergangenen Jahr Menschen auf der Flucht widerfahren ist. Es ist ja das Gebet eines Flüchtlings. Auf Joseph wird da angespielt, der von seinen Brüdern verkauft wurde und im Brunnen sitzt, im Schlamm, im Dreck – fern von seiner Familie. Der dann von Schleppern nach Ägypten gebracht und als Fremder diskriminiert und misshandelt wird. Dem man jede Schandtat zutraut, und der deshalb auch zu Unrecht beschuldigt werden kann, die Frau des Potiphar vergewaltigt zu haben. Klar – der Fremde wars. Dem traut man alles zu. Und wirft ihn ins Verlies. Wieder steht ihm das Wasser bis zum Hals. Wieder droht ihm der Tod. Er hat sich die Seele aus dem Leib geschrieen. Hat keine Stimme und keine Tränen mehr. Und keine Hoffnung darauf, die, die er liebt, je wiederzusehen. So wie sie nicht wissen und – so fürchtet er – nie erfahren werden, was aus ihm geworden ist. Sinnlos gestorben, namenlos bestattet. So wie die vielen, die inzwischen auf den Friedhöfen von Lampedusa und Linosa, auf Malta und Gibraltar und sonstwo rund um die Küsten des Mittelmeers liegen. So wie die wenigen, die das sogen. „Zentrum für Politische Schönheit“ in einer fragwürdigen und vom Ansatz her missglückten Kunstaktion durch Berlin führte, um sie vor dem Kanzleramt zu bestatten.

Keine Perspektive, keine Zukunft. Keine Schule für Aylan, kein Fussballturnier mit den Freunden, keine erste Liebe, kein erster Kuss. Nur ein Grab.

Und doch machen sich immer noch Menschen auf – vor allem Männer, vor allem solche, die nicht bereit sind zu kämpfen und zu sterben in einem sinnlosen und barbarischen Krieg. Die Angst haben vor den Demonstrativen Hinrichtungen, wie der Enthauptung der 21 koptischen Christen oder der Verbrennung des jungen Syrischen Piloten Anfang des Jahres. Sie machen sich auf, denn das Wasser steht ihnen bis zum Hals, so oder so. Und die Tränen und die Stimme sind längst weg.

Hagar

Die Bibel steckt voller solcher Fluchtgeschichten. Nicht alle gehen so gut aus wie die des Jesuskindes, die wir Weihnachten wieder hören werden. Aber offenbar ruht unser Glaube und unser Bekenntnis auf der Erfahrung von Menschen, die fliehen mussten. Das älteste Bekenntnis des Alten Testaments, das „kleine geschichtliche Credo“, beginnt mit der Schilderung einer Migration..

Dtn 26, 5-9:

Mein Vater war ein Aramäer, dem Umkommen nahe, und zog hinab nach Ägypten und war dort ein Fremdling mit wenig Leuten und wurde dort ein großes, starkes und zahlreiches Volk. Aber die Ägypter behandelten uns schlecht und bedrückten uns und legten uns einen harten Dienst auf. Da schrien wir zu dem HERRN, dem Gott unserer Väter. Und der HERR erhörte unser Schreien und sah unser Elend, unsere Angst und Not und führte uns aus Ägypten mit mächtiger Hand und ausgerecktem Arm und mit großem Schrecken, durch Zeichen und Wunder, und brachte uns an diese Stätte und gab uns dies Land, darin Milch und Honig fließt.

So zeigt sich in der Bibel Gott an der Seite derer, die auf der Flucht sind. Auch an der Seite der Frau, die mir beim Betrachten der Installation im Chorraum in den Sinn gekommen ist. Hagar heißt sie, und sie teilt das Schicksal derer, an die wir heute denken, auf vielerlei Weise.

Hagar war eine Fremde, die in den Zelten der Abrahamssippe Aufnahme gefunden hatte. Sie war schön, und als sich herausstellte, dass Sarah, Abrahams Frau kinderlos blieb, wurde sie dazu bestimmt, dem Patriarchen einen Sohn und Erben zu schenken. Diskret verschweigt die Bibel, was ihr angetan wurde… –  aber schließlich wurde sie schwanger und brachte Ismael zur Welt,  der heute als Stammvater der Muslime gilt.

Das weckt Sarahs Eifersucht. Die Frauen streiten. Und Hagar, die Fremde, wird aus dem Lager gejagt und vom Vater ihres Sohnes buchstäblich in die Wüste geschickt.
Matt sitzt sie da, will nur noch sterben. Da hört sie, wie Gott mit ihr redet. Wie er sie anspricht, wie er ihr Mut macht. Und sie erwidert – erstaunt und unsicher zunächst – seine Anrede:

Sie sagt: Du bist ein Gott, der mich sieht…“

Meditation (Danke, Christiane Quincke!)

Du bist ein Gott, der mich sieht.

Du siehst die,
die nicht gewollt sind.
Die Fremden,
die Kranken,
die Behinderten,
die Erfolglosen,
die Unangepassten.
Alle die siehst du.

Du bist ein Gott, der mich sieht.

Du siehst mich
mit meinen Zweifeln
Mit meiner Trauer
über die vielen Toten,

Mit meiner Wut
über das Leid, das mir angetan wurde, meiner Wut, die hinauswill und sich nicht steuern lässt.
Mit meiner Ohnmacht,
die zu viel Macht bekommt.

Du bist ein Gott, der mich sieht.

Du siehst mich
und du setzt dich neben mich
und hörst mir zu.

Du traust mir zu,
aufrecht in die Zukunft zu gehen.

Du bist ein Gott, der mich sieht.

Und weil du mich siehst,
siehst du auch die anderen.
Und ich weiß mich mit ihnen verbunden.
Und mit dir.

Du siehst die Menschen, die
immer noch und trotz Eiseskälte
über die Balkanroute
die Sicherheit suchen
bei uns.

Du siehst Menschen,
die von anderen in die Wüste geschickt werden.

Du siehst mich
mit meinen Zweifeln
angesichts einer verrohenden Sprache,

Mit meiner Wut
angesichts einer unmenschlichen Politik,
für die es Menschen erster und zweiter Klasse gibt,

Du bist ein Gott, der mich sieht.

Du siehst mich
und du setzt dich neben mich
und hörst mir zu.

Du malst in den Sand
und gibst mir ein Stück Brot
und horchst auf die Vögel.

Du schickst mir einen Engel
mitten im Schlaf,
der sagt:
Steh auf und iss!
Du hast noch einen weiten Weg vor dir.

Du bist ein Gott, der mich sieht. Hagar weiß es. Und bekommt neuen Mut, um weiterzuziehen.

Migrare II

Die Installation von HP Schlotter ist  – das sagt der Künstler selbst – offen für viele Deutungen. Ich habe in dem blauen Untergrund von Anfang an das Mittelmeer gesehen, und am Rand die Strände Nordafrikas und Italiens. Zwischen ihnen bewegen sich die Figuren und suchen ihren Ort. Auf der Fläche sind sie gefährdet, an Land auch.

Geformt wurden sie aus Wollspindeln aus der inzwischen aufgelassenen Wolldeckenfabrik in Weil der Stadt. Dort haben nach dem letzten Krieg viele Flüchtlinge, die damals zu uns kamen, Arbeit und Brot gefunden. Die Spindeln kennen viele Geschichten von der Flucht. Oft sind sie heimlich von Tränen benetzt worden, wenn bei der Arbeit die Erinnerung hochstieg an die, die es nicht geschafft hatten. Wenn die Bilder wieder da waren von den überfüllten Booten und den eingebrochenen Schlitten im Haff, von den toten Soldaten und den verbrannten Körpern in zerbombten Städten. Sie haben dennoch wärmende Decken geschaffen, die Spindeln. Und ein Einkommen. Und ein Dach über den Kopf und mit der Zeit auch etwas Geld für die schönen Dinge des Lebens. Die Frauen, die damals damit umgingen, sind mit der Zeit in diesem Land angekommen. Haben es mit aufgebaut. Haben Kinder und Enkel heranwachsen sehen, die längst schwäbisch sprachen. Haben sich ihren Dialekt bewahrt und ein paar der alten Rezepte. Hatten Heimweh und spürten die Trauer. Fanden neues Glück und manchmal Frieden. Waren uns Nachbarinnen und Freundinnen und saßen neben uns in der Kirche, um für die Verstorbenen zu beten, manchmal mit leergeweinten Augen und mit heiserer Stimme vom Klagen ihrer Trauer.

Vielleicht – so Gott will- wird es in 50 oder 60 Jahren ähnliche Geschichten von denen geben, die heute ankommen. Und sie werden immer noch an die denken, die das rettende Ufer nicht erreichten, weil ihnen das Wasser bis zum Hals ging. Und wissen, dass kein Mensch vor Gott verloren geht, so wie er es Hagar versprochen hat: „Ich bin ein Gott, der dich sieht.“ Amen.